LIEBE ANGST - Regie: Sandra Prechtel, Kinostart: 23. März 2023 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Kunst + Kultur



AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 12.03.2023


LIEBE ANGST - Regie: Sandra Prechtel, Kinostart: 23. März 2023
Sharon Adler

Lore war sechs Jahre, als ihre Mutter nach Auschwitz deportiert wurde. Lore ist eine "DP" – eine Displaced Person, bis zum heutigen Tag. Kim ist die Tochter von Lore. Sie will das jahrelange Schweigen ihrer Mutter durchbrechen und endlich über den Schmerz um den Verlust reden.




Kim Seligsohn ist Angehörige der Zweiten Generation von Shoah-Überlebenden. Das Trauma der Überlebenden trägt sie in und mit sich. Jeden einzelnen Tag.

Das Trauma des Überlebens kann sich in unterschiedlichen Verhaltensweisen manifestieren. Manche Überlebende horten Lebensmittel, oder aber sie verweigern sich rigoros regelmäßigem Essen und Trinken; wieder andere vergöttern oder sie attackieren oder ignorieren unvermittelt ihre Kinder; manche schweigen. Viele schweigen. So auch die Mutter der Protagonistin in dieser Doku. Lore.
Lore ist eine "DP" – eine Displaced Person, bis zum heutigen Tag. Lore war sechs Jahre, als ihre Mutter nach Auschwitz deportiert wurde.
Die erwachsene Lore hat ihre Karteikarten. Von morgens bis abends schreibt sie Artikel aus dem Weser-Kurier ab, archiviert, katalogisiert und sortiert sie in Kisten, Körben und Kartons.

Ein Leben lang hat Lore nicht gesprochen: nicht über ihre Mutter, nicht über das Versteck, in dem sie überlebt hat, nicht über Tom, ihren Sohn, der sich das Leben genommen hat.
Doch die Tochter, Kim, Dokumentaristin von "LIEBE ANGST" will dieses Schweigen brechen. Sie geht in die Offensive, wird mit diesem Film zur Aktionistin, konfrontiert die Mutter, sich selbst, macht die Zuschauer*innen zu Zeug*innen dieser schmerzhaften Auseinandersetzung und behutsamen Annäherung.

In ihren Erinnerungen geht die Protagonistin zurück in ihre Kindheit und Jugend, erinnert Bilder eines freien und antiautoritären Aufwachsens einerseits, ausbleibenden Geschenken andererseits. Spricht über den Selbstmord des Bruders und den Missbrauch, den sie als 13 jährige durch einen sehr viel älteren Mann erlebt hat. Auch darüber wurde nicht gesprochen. Bis heute.
Die Verzweiflung, die Einsamkeit, aber auch "die Hoffnung auf etwas Besseres" ist in jeder Einstellung deutlich spürbar. Angstneurosen und Borderline als Folge der Ablehnung durch die Hochschule gehören damals zu ihrer Lebensrealität.

In ihrer Doku stellt Kim Seligsohn Fragen auch danach, wie ihre Mutter als Jüdin im Deutschland der 1960er Jahre gelebt hat. Und danach, wie sie selbst heute das Paradoxon der jüdischen Identität und die intensive Beschäftigung mit Riten der christlichen Religion leben kann, "ohne ihre jüdische zu verraten."

Die Sehnsucht nach Familie, nach Zugehörigkeit, nach Stabilität ist wohl etwas, das diese Generation, die der Zweiten Generation von Shoah-Überlebenden, auch über Ländergrenzen hinweg eint – Lore und Kim treffen sich schließlich mit Familienmitgliedern aus Papua-Neuguinea in Berlin.

"Schreiben, schreiben, schreiben, alles aufschreiben,""nichts mehr vom Leben übrig."

Heute hat Kim ihre Musik, ihre Hunde, ihren Glauben. Kim kämpft, jeden Tag. Gegen die Angst, für ein Stück Normalität, um den Boden unter den Füßen. Da ist viel Wut, Trauer, Verletztsein, aber auch viel Kraft, und eine ungelebte Liebe zwischen Mutter und Tochter, die trotz allem immer da war.

Was es heißt, das Kind von Holocausteltern zu sein, macht die Sängerin und Schauspielerin Kim Seligsohn mit diesem Dokumentarfilm deutlich - manchmal bis an die Schmerzgrenze, die sich ungefiltert an die Zuschauer*innen weiterträgt. Besonders an diejenigen unter ihnen, die in unterschiedlichen Settings mit eben diesen Erfahrungen aufgewachsen sind.

Begleitet wird die Doku neben Film- und Audioaufnahmen von der erzählenden Stimme und dem intensiven Gesang von Kim Seligsohn, von vertonten Gedichten, von lyrischen Fragmenten und der "Hymne an die Namen", in dem die Sängerin schon seit vielen Jahren in Mahn- und Gedenkstätten, Museen, Kirchen und Synagogen die Namen ermordeter Jüdinnen und Juden singt. Durch die Hymne an die Namen zum Pogromgedenken und Gedenken soll "dem Unfassbaren ein Klang gegeben werden".

AVIVA-Tipp Kim Seligsohn nimmt die Zuschauer*innen mit in diesem schwierigen und schmerzhaften Prozess um das Brechen des Schweigens. "LIEBE ANGST" macht die Zerrissenheit der Post-Shoah-Generation, die Weitergabe transgenerationeller Traumata auf das Eindrücklichste erfahrbar. Bewegend.

LIEBE ANGST
D 2022 - Regie: Sandra Prechtel
Drehbuch: Sandra Prechtel und Kim Seligsohn
Musik: Reinhold Heil, Kim Seligsohn
Produktion: Freischwimmerfilm GmbH mit It Works! Medien GmbH
Premiere auf dem Filmfest in München 2022
Real Fiction Filmverleih
Kinostart: 23. März 2023
Zum Kinostart des Dokumentarfilms LIEBE ANGST sind Regisseurin Sandra Prechtel und Protagonistin Kim Seligsohn zu einer umfangreichen Premieren- und Kinotour unterwegs. Mehr zum Film und der Trailer sowie alle Premieren- und Kinotourtermine unter: www.realfictionfilme.de und www.facebook.com

Kim Seligsohn, Sängerin -- Komposition -- Schauspielerin, 1965 in Bremen geboren, lebt seit 1985 in Berlin.
1978-1982 Mitwirkung an verschiedenen Schauspielproduktionen, Einladung zum Berliner Theatertreffen. 1989-1992 div. Rollen in Film und Fernsehproduktionen 1991-1996 Komposition der Hörspielmusik ´Der Abgrund´ für das Deutschlandradio. 1998 Uraufführung im Rahmen ´Stimmen im Sommer ´ des Deutschlandradio. Als Sängerin hat sie seit 1998 diverse Konzerte gegeben, darunter die "Hymne an die Namen" in Mahn- und Gedenkstätten, Museen, Kirchen u. Synagogen gegeben. Ihre Doku "LIEBE ANGST" (Arbeitstitel "Enkeltöchter und Cousinen") wurde 2015 von der Stiftung ZURÜCKGEBEN gefördert.

Zur Regisseurin: Sandra Prechtel wurde 1969 in München geboren und lebt seit 1991 in Berlin. Nach dem Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der Filmwissenschaft und der Politologie schrieb sie für das jetzt-Magazin, das ZEITmagazin und absolvierte ein Redaktionsvolontariat Kultur beim SFB. Seitdem arbeitet sie als Autorin und Regisseurin von Dokumentarfilmen, Buchautorin, verfasst Radio-Features und Beiträge für Radio und Fernsehen. Zu ihren filmischen Werken zählen ROLAND KLICK. THE HEART IS A HUNGRY HUNTER von 2013, DIE BALLKÖNIGIN von 2010 sowie SPORTSFREUND LÖTZSCH von 2008.





Quelle: Real Fiction Filmverleih


Kunst + Kultur

Beitrag vom 12.03.2023

Sharon Adler